3. Dezember 1985. Der Taxöldener Forst sieht an seinen Hauptmarkierungen noch unversehrt aus. Die Zufahrtswege zum »Roten Kreuz«, einem christlichen Andachtsort mit einem großen Kruzifix an einer Kreuzung, führen noch durch Wald als solchen, einzelne Rodungen hinterließen keine bis dahin deutlich wahrnehmbare Lücken. Einzelne Protestbanner oder -schilder der WAA-Gegner*innen hängen bereits an Bäumen.
Monate später, als die Rodungen in rasantem Tempo riesige Freiflächen geschaffen hatten, der Zaun innen von außen trennte und damit die Baustelle von ihrer Umgebung schied, ähnelte der einstige Forst bereits einer Mondlandschaft.
Anstelle der Bäume standen nun Polizisten im Taxöldener Forst. Sicherlich war der Forst nicht wild und ökologisch herausragend, aber schuf dennoch eine Art heimatliche Identität, wie es Landrat Schuierer am 50. Geburtstag von Hubert Weinzierl, dem Bund Naturschutz-Vorsitzenden, erzählte. Man ging zum Preißelbeer- und zum Schwarzbeerzupfen oder zum Pilzesuchen dorthin. Er war groß und zusammenhängend, ein Wald halt, wie er den Reden um seinen Mythos und damit um die deutsche Seele entsprach.
Eine der schockierendsten Verwandlungen des dunklen Tanns erfolgte, als an die hundert Hektar bereits gerodet waren, als die grüne Biomasse herausgerissen und abgetragen war. Es lag am offen daliegenden Sand. Der blendete, assozierte Nacktheit, machte die Verwundung der Landschaft deutlich. Oder, anders gesagt, der einstige Wald lag bloß, die Kleider waren ihm ausgezogen. Es tat weh, über das Gelände zu schauen.
Jahrzehntelang ein Kreuzungspunkt mehrerer Waldwege, umschattet von Kiefern und Fichten, das »Rote Kreuz«. Seit Dezember 1985 einer der Pole, auf den sich Rodungsmaschinen zubewegten. Schließlich und endlich das verschämte Relikt bürgerlicher Frömmigkeit — verschämt, weil sich die Verantwortlichen nicht trauten, auch diesen letzten Erinnerungsrest umzusägen. Feigheit am Ende, gepaart mit beliebig interpretierbarer Glaubensauffassung, die so tut, als wäre ihnen das Christliche wichtig? Kulturdenkmal? Sakraler Ort? Geschützter Andachtsraum? Egal. Sie werden sich gedacht haben, dass das Ensemble sowieso nur mehr eine minimal provozierende Erinnerung darstellen würde und sich der Bau der Atomfabrik nie, nie, nie aufhalten ließe. Im Falle eines Falles würde der Herr auf der Seite der DWK stehen.
Wie definierte es der italienische Anarchist, Weinkenner und Slowfood-Mentor Luigi Veronelli? »Chilometro zero« (»Null Kilometer«) — Essen und Kunst sollen im besten Fall von vor Ort, aber kaum weiter als aus der Nachbarstadt kommen. Weil nicht nur die WAA-Gegner Bier trinken, sondern auch die Streitarmee des Geländes, lag es doch nahe, bei der hiesigen Brauerei in Schwandorf anzufragen. »Danke der Nachfrage, wir liefern gerne», mag die Antwort gewesen sein. Und in der Tat: Fünf Kilometer entsprechen null Kilometer.
Job ist Job. Wer Fragen stellt, bekommt nicht immer kluge Antworten.
Ähnliches mag auch hier zutreffen.
Noch Jahrzehnte später stellt sich jedoch die Frage, weshalb der junge Beamte auf seinen Feldherrnhügel gestiegen ist. Sicher ist die folgende keine angemessene Antwort: In Felix Dahns Roman »Ein Kampf um Rom« gibt es Beschreibungen von Schlachtordnungen, er erzählt vom römischen Stadtpräfekten Cethegus, der die Leidenschaften der Menschen erahnt und für seine Zwecke ausnutzt. Als die Goten sich mit ihrem König Teja ein letztes Mal zur Schlacht aufstellen und als lange vorher Theodahad sein Volk an Byzanz verriet. Unser Geschichtslehrer Schlitt (es war in der zehnten Klasse und er war ein begeisterter Historiker und begnadeter Lehrer), nahm uns in seinen Stunden stets in seine Gedankenwelten mit. Er ließ längst vergangene Zeiten und Mächte lebendig werden und vieles, was er uns als Lernstoff darbot, beschäftigte uns über den Unterricht hinaus. Da war es gut, Zeit zum Sinnieren zu haben, nachdenken zu können. Unterstellen wir also dem Polizisten, dass er in ähnlicher Weise seinen Gedanken nachgeht, weil auch ihn ein Lehrer begeistert hat. Die Kunst des Müßiggangs auf einem eingezäunten Erdhaufen hat dann den gleichen Wert wie eine gedankliche Beschäftigung mit offenen Fragen in der Atmosphäre eines Seminars.
Es ist augenscheinlich, dass der Ausblick vom sog. »Chaoteneck« die ausgreifendere Perspektive eröffnete.
Vis-a-vis. Mein Nachbar bei der Demonstration ist Kameramann bei der Polizei. Er tut mir nichts, ich tu ihm nichts.
Im Gegensatz dazu ist der Schwarm junger Aktiver mit der klaren Absicht zum Sonntagsspaziergang gekommen, den Baufortschritt zu behindern.
Dies rief die Bewacher auf den Plan. Die Zuschauer stellten allerdings fest, dass ein ausgelöster Alarm auch in die Leere führen kann. »Wo soll es gewesen sein, dass Chaoten Sachbeschädigung ausübten?« Aus dem Kreis der Zusehenden scholl kein Hinweis.
Wahrscheinlich zieht die mit Schutzausrüstung versehene Truppe deswegen weiter und stellt sich vor den Bauzaun. Ihn vor Beschädigungen zu bewahren, ist ein erstes Gebot.
Gleichwohl eröffnet sich um die Ecke ein anderes Spiel. Katz und Maus mit der Polizei, Sonntag für Sonntag.
Eine der Botschaften: ›Wir bauen einen Zaun, wir wissen, er ist fest und stabil und so hart wie Diamant‹. Die andere: ›Wir können euch das Gegenteil beweisen‹. Spaßguerilla, bitterernst.
Ostern allerdings hörte der Spaß auf. Das Sofa vom Sperrmülltag war entsorgt, die Verteidigungspläne neu skizziert, das CS-Gas in großen Bottichen angeliefert. Die Crew im Wasserwerfer stand bereit.
Der Vater mit seinem Kinde ahnt, dass sich die kommende Stunde bar jeglichen Spaßes entwickeln würde. Beide verlassen das Feld glücklicherweise zeitig.
Wiederum um die Ecke klären sich die Fronten.
Am »Roten Kreuz« ließen sich die Beamten zwischenzeitlich in die Höhe heben, um so zu tun, als sei der Überblick, wenn schon nicht zu gewinnen, so doch wenigstens nicht zu verlieren.