Sale e Tracbocchi – Menschen in den Abruzzen
Sale e Trabocchi
Menschen in den Abruzzen
Menschen, die das Bild eines Landes gestalten, in dem sie leben und arbeiten, ein Land, das sie geformt haben und welches seine Ausprägung auch in ihren Physionomien hinterlässt. Nicht willkürlich herausgegriffen, aber bestimmt nicht ausgewogen, eher ein subjektives soziales Bild der Abruzzen zeichnend.
Natalia Ginzburg hat gesagt: »... Es gibt etwas eintönig Gleiches in den Schicksalen der Menschen. Unser Leben entwickelt sich nach alten, unverrückbaren Gesetzen, nach einem gleichmäßig alten Rhythmus. Träume verwirklichen sich nie, und kaum haben sie sich verflüchtigt, erkennen wir jäh, dass wir die größten Freuden unseres Lebens außerhalb der Wirklichkeit zu suchen haben. Kaum haben die Träume sich verflüchtigt, verzehren wir uns vor Sehnsucht nach der Zeit, da sie uns erfüllten. Und in diesem Wechsel von Hoffnung und Sehnsucht verläuft unser Schicksal.«
Vielleicht ist es ja am besten, sich einer Landschaft zu nähern, indem man ihre Menschen kennen lernt, weil sich dann Schicksale verweben und Hoffnungen und Sehnsüchte miteinander teilen lassen.
»Vapoforno« hieß die Bäckerei der Familie Di Cicco in Gioia di Marsi. Ihr Brot und ihre Pizze waren fantastisch, die Freundlichkeit des Vaters, der zwei Söhne und der Tochter bemerkenswert. Auch wenn der kleine Laden mit der Backstube sich nahe der Hauptstraße leicht finden ließ, lag er dennoch etwas abgelegen von den Wegeachsen des Ortes. Zudem waren die Räume klein und eng, sie entsprachen wohl auch nicht mehr den administrativen Anforderungen. Die Familie bemühte sich um einen anderen Standort und wurde 1998 an der Hauptstraße fündig. Die Eröffnung des neuen Geschäfts verzögerte sich wegen bürokratischer Hemmnisse und nachbarschaftlichen Einspruchs. Immer, wenn ich von Pescina nach Pescasseroli unterwegs war, warf ich Blicke auf die vermutete Ladentüre, passierte jedoch nur leerstehende Geschäftshäuser. Etliche Jahre später traf ich die Tochter an einer Tankstelle in Avezzano wieder. Sie arbeitete dort und was sie erzählte, klang, als hätte die Familie ihr Gewerbe aufgegeben.
Bäckerei Di Cicco Antonio, Gioia di Marsi (1998)
Franco Tassi | Jurist und Wirtschaftswissenschaftler, Direktor des Abruzzen-Nationalparks von 1969-2002
VON DER WILDNIS Franco Tassi
Wie erfolgreich muss man im Naturschutz eigentlich sein, um in Amt und Würden zu überleben? Und wie erfolgreich in Italien?
Franco Tassi, der langjährige Direktor des Abruzzen-Nationalparks, war sehr erfolgreich. Als er den Nationalpark 1969 übernahm, gab es für dieses große Schutzgebiet keine günstige Prognose. Es war auf den Hund gekommen, statt auf den Wolf. Denn der strich nur noch in einer kleinen Restpopulation durch die Wälder, und sein Aussterben – auch und gerade im Abruzzen-Nationalpark – war abzusehen. Grundstücksspekulation, illegale Bautätigkeiten, halb legale Rodungen, Wilderei. 126 widerrechtliche Baugenehmigungen wurden in den sechziger Jahren erteilt, darunter eine an den damaligen Generalstaatsanwalt Pietro Pascolino und eine an den ehemaligen römischen Umweltminister Achille Corona.
Franco Tassi, 1938 in Rom geboren, kannte die Gegend – als Belohnung für seinen brillanten Gymnasiumsabschluss hatte er sich seinerzeit einen Besuch im Abruzzen-Nationalpark gewünscht. Der Umgang mit der wilden Natur verzauberte ihn, schon seit seiner Kindheit hatte er sich intensiv mit Insekten beschäftigt. Was lag also näher, als Biologie und Physik zu studieren? Es war der Großvater, der ihn mit einer denkwürdigen Äußerung zunächst auf einen anderen Weg brachte. „Ohne einen Abschluss in Jura wirst du im Leben übers Ohr gehauen“, lautete sein Rat. »Wie Recht er hatte«, erinnert sich Tassi, der sich aufs Verwaltungsrecht spezialisierte, auch wenn er die vier Jahre Jurastudium zum Teil nur widerwillig absolvierte.
Es hätte eine glanzvolle Karriere im öffentlichen Dienst werden können: Zunächst erhielt er eine Stelle im Schatzministerium, dann ging er ins Innen- und bald darauf ins Wirtschaftsministerium. Er bewarb sich erfolgreich um eine Stelle im Staatspräsidialamt, verzichtete aber darauf, um Richter zu werden. Schließlich hörte er 1968, dass sich niemand finden ließe, der den sechs Jahre vakanten Posten als Direktor des Abruzzen-Nationalparks übernehmen wollte. Offensichtlich gab es niemanden, der nicht nur die erforderlichen Zeugnisse, sondern auch das notwendige Engagement mitbrachte.
Tassi verfügte über beides und bekam das Amt. Er trat den Dienst an und bemerkte sehr schnell, mit welcher Ungeduld sein baldiger Rücktritt erwartet wurde. Die Zahl derer, denen es lieber gewesen wäre, die Stelle noch länger unbesetzt zu lassen, war jedenfalls groß. Aber er quittierte nicht, auch nicht, als ihm am Tage seiner Ernennung kein Glückwunschschreiben aus Rom erreichte, sondern ein Anruf, in dem ihm eine Kugel in den Kopf versprochen wurde, würde er den Direktorenposten nicht bald wieder aufgeben. Tassi aber blieb und begann, den Nationalpark wieder aufzubauen.
Franco Tassi bei den Feierlichkeiten zum 75jährigen Jubiläum des Nationalparks Abruzzen 1997 in Pescasseroli
Maria Gabriella Mezzanotte
WER DEN CENACOLO ERBT Maria Gabriella Mezzanotte
Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in den Abruzzen einen Kreis von Intellektuellen, die eine wichtige kulturelle Rolle in der Region Abruzzen spielten. Der bekannteste war der Dichter Gabriele D’Annunzio, ein anderer der Maler und Fotograf Francesco Paolo Michetti. Zusammen mit dem Komponisten Francesco Paolo Tosti und dem Künstler Costantino Barbella trafen sie sich unregelmäßig in Michettis Haus in Francavilla, in dem der Maler ab 1884 mit seiner Familie lebte. An diesem Cenacolo (auf deutsch vielleicht: Stelldichein) nahm auch der Schriftsteller Giuseppe Mezzanotte teil und der Senator Camillo Mezzanotte.
Maria Gabriella Mezzanotte stammt aus dieser Familie. Als sie sehr jung den Weinbaubetrieb ihres Vaters übernahm, übernahm sie von einer Vorfahrin wichtiges Wissen. Donna Concettina, eine weitsichtige Winzerin, mit dem Senator Camillo Mezzanotte verheiratet, lebte fast siebzig Jahre vorher. Sie war leidenschaftliche Winzerin, entwickelte neue Weine und versuchte stets, ihre Qualitätsmaßstäbe zu steigern. Sie versäumte es nicht, jedes gute Ergebnis in ihrem Notizbuch zu vermerken und sie war oftmals Gastgeberin des Zirkels um Micetti und d’Annunzio gewesen. Für Maria Gabriella Mezzanotte war das Notizbuch wertvolle Anleitung. Auch sie wollte die Qualität ihrer Weine steigern und ihren Stil finden. Mit den beiden klassischen abruzzesischen Rebsorten, der Montepulciano- und der Trebbiano-Traube realisiert sie ihre Premiummarke und nennt sie »Cenacolo della Mezzanotte«. Ein weiterer, Aufsehen erregender Weißwein heißt »Le Ruvelle«. Maria Gabriella hat diesen Wein in den Aufzeichnungen der Donna Concettina entdeckt und neu kultiviert. Es ist die gleiche Weinsorte, mit dem sich D’Annunzio und Michetti im historischen »Cenacolo« zuprosteten.
Giacomo Santoleri | Bauer und Nudelhersteller | Caprafico
ZWEIKORNMANN Giacomo Santoleri
Giacomo Santoleri verbrachte Kindheit und Jugend vorwiegend bei seinen Großeltern in Rom. Er ging in Rom zur Schule und studierte Elektrotechnik. Als sein Vater im Jahr 1972 starb, führten die Geschwister den elterlichen Landwirtschftsbetrieb zunächst weiter, einige Jahre später aber teilten sie das Gut auf. Giacomos Bruder Nicola spezialisierte sich auf Weinbau. Giacomo führte sein Studium zu Ende, arbeitete als Elektroingenieur und Nebenerwerbslandwirt. Er pendelte zwischen Rom und Chieti, bis er sich ab 1994 auf Caprafico bei Guardiagrele niederließ. Die Hochebene von Caprafico besitzt keine besonders fruchtbaren Böden, so war ständiges Experimentieren nötig, um herauszufinden, welche landwirtschaftliche Produktion unter den neuen Vorzeichen der Europapolitik auch betriebswirtschaftlich vertretbar war. Zudem entschied er sich sehr früh für eine Landwirtschaft ohne Pestizide und Kunstdünger und bewirtschaftete sein Land biologisch. Seit Jahrhunderten wurde der Altopiano zwischen Guardiagrele und Casoli für sein Olivenöl gerühmt, weil Klima, topografische Lage und die Beschaffenheit des Bodens einzigartig gute Voraussetzungen boten. Der abruzzesische Schriftsteller Gabriele d’Annunzio hatte 1900 seinem Freund Pasquale Masciantonio geschrieben: »Das Öl, das du mir schickst, ist immer das beste.« Die Nachfahren des Pasquale Masciantonio übrigens leben und bewirtschaften noch heute das Land in der unmittelbaren Nachbarschaft des Santoleri-Besitzes und Giacomo Santoleri lässt seine Oliven dort pressen. So wurde Olivenöl das erste Produkt, für das Giacomo Santoleri einen Markt suchte. Er stieß auf Signore Innocenti, der in Rom ein Geschäft mit Ethno-Produkten führte und sich auf den Handel mit traditionellen und ausgefallenen Getreideprodukten spezialisiert hatte. Innocenti wollte Giacomos Öl vertreiben. Eines Tages diskutierten sie über Getreidesorten. Innocenti stammte aus Monte Leone bei Spoleto, in dem die Getreideart Farro (Emmer oder Zweikorn, Triticium dicoccum) seit jeher kultiviert wurde. Emmer schien wie geschaffen für Caprafico, weil dieses Getreide wenig anspruchsvoll ist und sich ohne Chemieeinsatz gut entwickelt. Die Spruchweisheit »Chi mangia farro, non nutre il medico« (»Wer Emmer isst, ernährt den Doktor nicht«) und die diversen Werbeaktionen des Signore Innocenti leisteten ebenfalls Überzeugungsarbeit. Im Lauf der Jahre wurde die Emmerproduktion zu einem der wesentlichen Standbeine von Giacomo Santoleri. Aus der Idee, einzelne typische Produkte der Region herzustellen, entwickelte sich im Laufe der Jahre ein breiter landwirtschaftlicher Betrieb mit vielfältigen Erzeugnissen. Neben dem hoch gelobten Öl wurden es Nudeln, Hülsenfrüchte und Getreide, die er verkauft. Die vorbildliche Renovierung eines alten Landhauses aus dem 17. Jahrhundert und seine Umwidmung für den Agriturismo ergänzten sein Angebot. Und schließlich entwickelte er sein eigenes Saatgut für den Anbau von Emmer, Gerste, Linsen und Erbsen.
Seine Vorstellungen im Bereich Biolandbau blieben streng und kompromisslos. Menschen wie er produzieren keine Massengüter. Sie haben eine andere Vorstellung von Landwirtschaft, sie stellen höchste Ansprüche an das Produkt. Sie verkaufen am liebsten nur an die Leute, die ihre Ware auch zu schätzen wissen und allen ist der Abstand zur Administration gemein: »Meine Arbeit ist hart und macht mich nicht reich. Mir sind die Leute zuwider, die mir nur Steine in den Weg legen. Darum gehe ich den Institutionen aus dem Weg, wo ich nur kann«.
Der Laden von Signore Innocenti in Rom (Trastevere)
Tommaso Masciantonio | Produzent von Olivenöl | Caprafico, Guardiagrele
Carmine Cercone | Gastronom und Besitzer des Restaurants »Taverna de Li Caldora« | Pacentro
DER PROTAGONIST Carmine Cercone
Die ›Taverna de Li Caldora‹ gehört zu den besten Restaurants der Abruzzen. Die Familie, die es betreibt, ›hält die von Ackerbau und Viehzucht geprägte Identität ihrer Küche hoch‹, lobt Slowfood. Es liegt an der Hauptstaße des Ortes, unter einem Torbogen. Wer das Wirtshausschild sucht, findet ein unbeleuchtetes, aus Holz geschnitztes Tableau und rechts hinter dem Eingang eine kleine Enoteca, bevor zwei Treppen hinab in die Gasträume führen. Zu sagen, der eine davon, ein hoher, tonnengewölbter Raum ist Gabriele D’Annunzio gewidmet, ist nicht ganz richtig, denn eigentlich ist es eine Auswahl von gut vierzig Frauen, die er ehrt, Gefährtinnen des Dichters. Es gehört neben den Diskussionen über das Essen zu den stimulierenden Erlebnissen, Carmine Cercone zuzuhören, wenn er das Liebesleben d’Annunzios und ausgesuchte Liaisonen durchleuchtet. Er tut dies wissend, beredt und sachlich, mit unübersehbarem Schalk in seinen Mund- und Augenwinkeln.
Nicola Santoleri (+ 2008) | Winzer | Guardiagrele
Nunzio Marcelli | Schäfer und Unternehmer | Anversa degli Abruzzi
Georg Brintrup | Filmemacher, Schriftsteller, Journalist | S. Stefano di Sessanio
Domenico Di Prinzio lernte ich bei Giacomo Santoleri kennen, als ich mit einer Gruppe auf Caprafico ein Fest feierte. Domenico hatte seine Ziehharmonika dabei. Vielleicht war es für ihn ungewöhnlich, soviele Deutsche in seiner Nachbarschaft zu treffen. Jedenfalls sprach er davon, dass er gerne eine Fremdsprache lernen würde, um sich mit uns zu unterhalten. Aus ihm sprach Weltoffenheit und Sehnsucht nach Neuem.
Herbst in den Abruzzen: Zeit zum Holzeinlagern | Szene in Guardiagrele
Peppino Tinari | Koch und Besitzer des Restaurants »Villa Maiella« in Guardiagrele
Lucrezia De Domizio Durini | Kunstvermittlerin | Bolognano
DIE FRAU UND DER FILZHUT Lucrezia De Domizio Durini
»Ich werde als eine untypische Persönlichkeit der modernen Kunst bezeichnet – ich bin eine Kulturmaklerin, Schriftstellerin, Journalistin, Mäzenatin«.
Wir haben sie nicht in Mailand getroffen, in der Redaktion ihres Magazins RISK, die in ihrem Loft, in den weiten lichten Räumen einer früheren Flugzeugfabrik eingerichtet ist – sondern in einem Abruzzendorf, überhalb der Orta-Schlucht, in einem alten Palazzo in Bolognano, in der Casa di Lucrezia. Der regnerische Februartag ließ uns frösteln, als wir durch die Gassen des kleinen Dorfes spazierten. Unser Auto stand an der Piazza, wir wollten uns auf den Besuch einstimmen. Bolognano ist schön, es ist eines der übrig gebliebenen Dörfer, das sich eine Identität bewahrt hat, doch zwischen den Häusern und der Wildnis war eine Scheidelinie spürbar. Bis zum Klingeln an der Tür waren unsere Eindrücke von dieser Grenze bestimmt, jetzt sollten wir sie überschreiten und das schwere hölzerne Portal der Casa di Lucrezia bildete das Symbol unseres Eintritts in die andere Welt. Hölzerner Barock nach außen, edelstahlglänzende Gegenwart nach innen. Wir standen auf grau gestrichenem glatten Betonboden vor einem großem Bild, auf dem Joseph Beuys auf uns zulief. Der alte Palazzo als eine Galerie, die alle Arbeiten, Projekte und Aktionen von Beuys in den Abruzzen präsentiert und beschreibt. Von Aratura biologica über Difesa la natura bis Lo sveccia toio. In unzähligen Räumen, vom Keller bis zum Boden, von 1973 an akribisch gesammelt und bewahrt. Lucrezia De Domizio Durini hat mit der Renovierung des Hauses mehr geschaffen als ein Museum. Es ist ihr Lebensprojekt der Ganzheitlichkeit von Kunst und Leben.
Gianfranco Conti
ARCHITEKTUR DER ZÄRTLICHKEIT Gianfranco Conti
Lehm war in den Abruzzen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein weit verbreitetes Baumaterial. Noch 1934 machten Lehmhäuser über 20 % des Baubestandes in den Abruzzen aus: von insgesamt 10.000 Wohnhäusern waren 2.200 aus Lehm gebaut. Historisch gesehen waren für die Verbreitung von Lehmhäusern tief greifende Strukturveränderungen in der Landwirtschaft und in der Verteilung des Grundbesitzes in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bedeutsam gewesen. Eine veränderte Landaufteilung und ein höheres Sicherheitbedürfnis der Landbevölkerung führten zur Entstehung von Wohngebäuden direkt auf dem bewirtschafteten Land, anstelle der bis dahin üblichen kleinen Weiler und Dörfer fernab der Felder. Im Zusammenhang mit der Landflucht der fünfziger und sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wurden viele Lehmhäuser verlassen und durch Steinhäuser ersetzt, so dass die gesamte Region einem erneuten deutlichen architektonischen Wandel unterlag – mittlerweile hat er ein fast irreversibles Ausmaß erreicht. Heute existieren davon nur noch einzelne Gebäude aus Lehm auf dem Land oder in der Peripherie der Städte. Es handelt sich um Lehmhäuser in den Gemeinden von Bucchianico, Casalincontrada, Chieti, Ripa Teatina, Roccamontepiano und San Giovanni Teatino, Torino di Sangro und Villamagna, also vor allem im Hinterland von Pescara und Chieti. Doch gibt es wieder Aktivitäten, Lehmhäuser zu renovieren oder neue Lehmhäuser zu bauen. Ein Architekt in den Abruzzen hat sich den Erhalt, die Rekonstruktion und den Neubau der Lehmhäuser zur Aufgabe gemacht. Gianfranco Conti aus Casalincontrada.
Der Boden für die Häuser von Gianfranco Conti
Franco Perotti
RUDE BRAVO KLINGT GUT Franco Perrotti
Heute ist Franco Perrotti Designer in den Abruzzen. Doch er war ein Auswanderer, der 1978 nach Mailand zog. Mailand – ein großes Atelier, um nach dem Studium einen Beruf zu erlernen. Ein Atelier, um Kulturen zu erleben. Ein Atelier, um mit Menschen zu arbeiten. Hunderte Projekte oder zwanzig Jahre. Der einzige in der Firma, der das kontinuierlich mit einem Japaner tat. Bald fühlte er die japanische Art, Gegenstände zu schaffen, sich diese zu unterwerfen und sie zu verändern, mit all seinen Sinnen, spürte sie geradezu körperlich. Er wollte nicht nur technisch, sondern auch praktisch Bescheid wissen, wollte die Beziehung zu den Handwerkern, wollte selbst mit den Händen arbeiten, wollte das Material erkunden. War erfolgreich. War weltweit unterwegs und doch gefangen im Mailänder Techno-Schrein. Musste Kompromisse machen, spürte die ständig strengeren Marktgesetze, war nicht mehr frei. Nutze seine Krise. Ging zurück in die Abruzzen. Gründete Rude Bravo. Rude Bravo? Ein guter Klang, eine Erinnerung an seine Kindheit. Wie zwei Wörter eben klingen, die man immer wieder gehört hat, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Schöne Poesie. Dann in der Tschechoslowakei gewesen, 1986, und die Zeitung gefunden. Die Erkenntnis: Rude Bravo klingt nicht nur gut, hat auch etwas Internationales und wird überall verstanden. Rude Bravo ist ein gutes Markenzeichen. Der Erinnerungsraum wird realer Ort, wird Labor für ihn und seine Freunde, die mit ihren Händen etwas gemeinsames machen. Rude Bravo wird Design-Workshop, wird Ausstellung, wird Lebensinhalt. Rude Bravo ist sein Lebensraum.
»Natürlich gibt es Vorbilder, gibt es Inspirationen. Der großartige Antonio Gaudi, weil der, je älter und erfahrener er wurde, stets auf seiner Baustelle war und selbst mit Hand angelegt hat. Vorher schon war es Borromini.«
»Borromini – der Barock-Borromini?«
»Barock oder sagen wir, sizilianische Barockarchitektur, wurde von Jahr zu Jahr meines Lebens wichtiger. Wie Frank Gehry und die Felsengräber in der Türkei und der Schrank meiner Großmutter in Manopello, auf dem Land. Die Bauern auf dem Land haben immer Zeit, wenn du sie besuchst. Im Gegensatz zu den Handwerkern. Die Handwerker haben nie Zeit, auch nicht, um Dinge zu verändern, um etwas anders zu machen. Sie arbeiten nicht mit dem Land, mit dem Boden. Die Bauern schon. Meine Großmutter war Bäuerin. Bäuerin in Manopello in den Abruzzen: Una terra di contadina di pastori di mani. Abruzzo: Das Land der Bäuerin, der Hirten, der Hände.
Die Erinnerungen. Du brauchst ein gutes Gedächtnis, um die Erinnerungen an die Geometrie der Landschaft, an die Formen und die Bildersprache des Landes in deine Arbeit einzubringen. Ich weiß nicht, wie viel von diesem Land in meinen Werken steckt. Aber ich bin ja selbst Teil des Landes und ich will meine Möbel aus den Materialien dieser Gegend formen. Holz, Steine, Metalle, Kunststoffe.
Das sind Widersprüche? Ja, meine Gegenstände stecken voller Widersprüche. Wenn die Leute sagen: Wir wollen ein Haus nur mit Rude-Bravo-Design, dann sage ich, das geht nicht. Du wirst verrückt werden, weil dieses Haus voller Widersprüche sein wird.
Das ist Ironie? Ja, zum Glück. Ironie ist etwas Elementares.«
»Ist es deine Ironie oder die Ironie der Abruzzen?«
»Es ist meine Ironie, die Ironie meiner Familie, besonders die meiner Großmutter. Aber weißt du, was wirkliche Ironie ist? Ich war schon einige Jahre zurück in den Abruzzen, hatte den Laden hier bei Lanciano und stellte in Mailand auf der Möbelmesse aus. Da kam eine Gruppe von jungen Architekten aus den Abruzzen. Sie suchten jemanden, der mit ihnen das neue Museum »La Civitella« in Chieti einrichten sollte und sie wollten sich in Mailand inspirieren lassen. Sie bleiben an meinem Stand hängen und waren total begeistert von den Sachen, die sie sahen. Sie wussten, dass sie gefunden hatten, wonach sie suchten, waren befriedigt, dass sich der weite Weg gelohnt hatte und wollten wissen, woher ich sei. Ich sagte: ich komme aus Chieti. Ah ja, sagten sie, aus Chieti. Und es wurde ein wunderbares Projekt.«
Das Interview mit Franco Perotti fand 2002 statt. Mittlerweile ist die Marke Rude Bravo Geschichte, Franco Perotti führt seine Arbeit unter der Marke d’Essai seit 2012 sehr erfolgreich in Pescara fort.
Edoardo Micati
DER HERR DER STEINE Edoardo Micati
»Ich bin ein Solitario, ein Einzelgänger«. Edoardo Micati stammt aus einer sizilianischen Kaufmannsfamilie, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus Messina nach Pescara umsiedelte. Er wurde 1943 geboren und die Entdeckung der Berge verdankt er einer Tante, mit der er als Kind von Castel del Monte aus zu sommerlichen Wanderungen in das Gebiet des Gran Sasso zog. Später, als er in Bologna Maschinenbau studierte, schien seine Karriere bereitet. Doch die Sehsucht nach den Bergen war größer. Er bezweifelte, dass er als Ingenieur noch die Gelegenheit haben würde, viel Zeit im Gebirge zu verbringen. So fasste er den Entschluss, sein Studium abzubrechen und Skilehrer zu werden. Ein guter Sportler war er seit früher Jugend und die Vorstellung arbeitsfreier Sommermonate mit vielen Möglichkeiten, durch die Berge zu ziehen, war stärker als jede Existenzangst. Edoardo Micati stand, wie er selbst sagt, am Anfang seines unglaublichen Abenteuers. Es war die Ahnung an die versteckten und vergessenen Eremiteien und an die Häuser aus trockenem Stein. Informationen fand er in den Erinnerungen der alten Leute, die als Pilger solche Orte besucht hatten. In den wissenschaftlichen Büchern der Kunsthistorie spielten Eremiteien als „minderwertige Architektur“ keine Rolle, weil sie von unbekannten Laien errichtet wurden, deren Bau- und Kunstverständnis offiziell nicht anerkannt war. Also wanderte er durch das Land, in der Hitze des Sommers wie in der vegetationslosen Winterzeit und verglich die Landschaft mit den fragmentarischen Berichten seiner Informanten. Manche Eremiteien fand er sofort, aber oft brachte erst die zehnte, elfte Suche den Erfolg. Nach der Entdeckung der einzelnen Orte vermaß er die Relikte der Anlagen, dokumentierte ihren Zustand in genauen Berichten und fertigte detaillierte Reliefzeichnungen an. Gleichzeitig widmete er sich der historischen Quellenkunde und der Forschung in staatlichen wie kirchlichen Archiven, um die Geschichte dieser »sekundären« Denkmäler zu rekonstruieren. Anfang der Neunziger Jahre erschien ein dickes Buch, in dem er die Summe seiner Forschungen publizierte: »Eremi e luoghi di culto rupestri della Majella e del Morrone«. Das Werk war ein Meilenstein, weil es erstmals die wichtigsten Verbindungen von Mensch und Natur im Majellagebirge aufzeigte und eine Landschaft charakterisierte. Edoardo Micati war fast immer auf sich alleine gestellt und es gibt neben ihm nur einen Menschen, der für seine Arbeit wichtig war. Donato Vitale aus Decontra hatte ihn auf der Suche nach den Eremiteien begleitet, die im tiefsten Dunkel der Geschichte lagen und von ihm hat Edoardo gelernt, Häuser aus trockenem Stein zu bauen. Er sagt: »Nur durch die konkrete Arbeit mit den Händen hat der Mensch die Möglichkeit, eine Landschaft in ihrem Gesamtzusammenhang zu erhalten. Was du mit den Händen schaffst, kann keine Maschine, deshalb musst du es selbst tun.«
Herstellung des Vino cotto | Pomaro
Herstellung des Vino cotto | Pomaro
Bäuerin, Bauer | Genuss des Vino cotto | Pomaro
Maria Verì und Rinaldo Verì | Fischer und Wirtsleute | Rocca S. Giovanni
Die Costa dei Trabocchi zwischen Pescara und Vasto ist eine der typischen Landschaften der Abruzzen. Seit alters her wurde hier auf besondere Weise Fischfang betrieben: Stelzen tragen eine Plattform, diese ein Holzhäuschen, Tische und Stühle. Balken sind mit Tauen verbunden, Netze warten auf ihren Einsatz. Heutzutage dienen viele dieser Stelzenbauten für mehr als nur der Fischerei, weil Fischen nicht mehr den Lebensunterhalt sichert. Manche der Trabocchi stehen in Doppelfunktion in den Wellen des adriatischen Meeres, sie sind auch Restaurants geworden, wie der der »Punta Tufano« von Maria und Rinaldo.
Maridea, Gabriele, Paola und Zeila Pavone | Roccamorice
Ihr Agriturismo »Tholos« ist nicht nur lukullischer Anziehungspunkt, auch die Lage des Anwesends vor den Majella-Bergen ist besonders.
Die Küchen- und Service-Crew des Hotels »Il Picchio« in Pescasseroli (1995)
Vor dem Erdbeben 2009 gehörte der tägliche Markt auf der Piazza Duomo zum schönen Alltag. Etwa sechzig, siebzig dieser Märkte gibt es noch in Italien. Wann der Centro storico in L'Àquila wieder zu seiner lebendigen Infrastruktur zurückfinden kann, weiß niemand. Der Mut und die Energie der BewohnerInnen und die vielen Bauprojekte lassen hoffen.
Signora Costanza, die Kustodin der Kirche S. Maria in Valle Porclaneta in Rociolo dei Marsi. Vielleicht war es ihr Charme, der den damaligen Papst Benedetto XVI. nach Rosciolo führte. Es wird erzählt, sie habe auf einer Pilgerfahrt in Rom den Bruder Joseph Ratzingers getroffen und über ihn den Papst eingeladen, »ihre« Kirche zu besuchen. S. Maria in Valle Porclaneta liegt etwa drei Kilometer außerhalb des Ortes zu Füßen des Velino-Massivs, hat schöne Fresken und beeindruckende Steinmetzarbeiten bewahrt. Ein seitlich des Kirchenschiffs leicht tiefer liegender Raum deutet auf die Nutzung der Kirche auch für die Schäfer hin, die ihre Schafe während der Messe hier in Obhut halten konnten.
Otto Lehmann-Brockhaus (+ 1999) | Kunsthistoriker, Gelehrter (Dr. Lehmann-Brockhaus schrieb ein Standardwerk zu Kunst und Geschichte über die Abruzzen und den Molise | Rom
Blick über die Grenze der Region. Zwei Bauern im Molise, nicht weit vom letzten Ort in den Abruzzen. Wir hielten an und fragten nach dem Weg. Es kam zu einer längeren Unterhaltung, in der die beiden von ihrer Arbeit und ihrem Hof erzählten und uns ihre antik anmutenden Werkzeuge zeigten.
Das Zitat von Natalia Ginzburg ist Teil der Geschichte »Winter in den Abruzzen« und dem Buch »Die kleinen Tugenden«, welches im Verlag Klaus Wagenbach Berlin erschienen ist, entnommen. »Winter in den Abruzzen« handelt von der Verbannung Natalia Ginzburgs und ihres Mannes Leone Ginzburg in ein abruzzesisches Bergdorf durch das faschistische Regime. Es ist einer der sensibelsten Texte über die Abruzzen. Zum Glück gibt es den Wagenbach Verlag mit seinem ausgesuchten Programm mit Literatur über Italien und von italienischen AutorInnen.
Die meisten Bilder dieser Serie wurden zwischen 1997 und 2005 und ab 2020 aufgenommen. Sie stellen ebenso wie die (gekürzten) Texte, welche auf Interviews mit den Portraitierten beruhen, eine Auswahl für ein Buchprojekt über die Abruzzen dar, an dem Herbert Grabe und Angela Natale seit längerem arbeiten (und nicht wissen, wann es jemals fertig wird). So oder so – es ist eine Hommage an die Abruzzen und ihre BewohnerInnen.